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Wie ich die Lösung für ein Problem gefunden habe

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Im Frühling 1994, Mitte März, fuhr ich wieder mal zum Unterricht ins Konservatorium.

Es sind bereits drei Monate vergangen, in denen ich mit großer Begeisterung und Eifer Deutsch lernte, da ich zum nächsten Meisterkurs des berühmten deutschen Pädagogen Karl-Heinz Kämmerling nicht nur mit einem gutem Sprachverständnis, sondern auch zumindest mit geringer Möglichkeit, selbst sprechen zu können, gern fahren wollte. Professor Kämmerling sprach mit seinen Schülern auch Englisch, jedoch war sein englischer Wortschatz dermaßen spärlich, dass sich das Ganze auf allgemeine Sätze beschränkte. Auf Deutsch hingegen konnte er alles sehr ausführlich und detailliert erklären. Das einzige „kleine“ Problem bestand darin, dass der nächste Meisterkurs im Juli stattfinden sollte, aber meine Eltern nicht genug Geld für den Flug hatten. Alle Ersparnisse hat der Staatsbankrott im Jahr 1992 „aufgefressen“.

Um keine Zeit in der U-Bahn zu vergeuden, las ich unterwegs ein Buch von Hermann Hesse („Narziß und Goldmund“) im Original auf Deutsch. An einer Station setzte sich neben mich ein Mann mittleren Alters und fing fast sofort an, auf mein Buch zu starren. Ich gab mir Mühe, ihn nicht zu beachten – man weiß ja nie, wer alles Deutsch versteht, außerdem war das Buch tatsächlich interessant, wenn auch damals für mich doch ziemlich kompliziert. Die Bedeutung einiger Worte konnte ich ohne Wörterbuch bloß erraten. Denn ich würde ja nicht auch noch ein schweres Wörterbuch mit mir rumschleppen!

„Junge Frau, können Sie Deutsch?“ – fragte mich plötzlich mein Mitfahrer, und ich hörte in seiner Stimme eine seltsame Hoffnung.

„Ich lerne es erst seit 3 Monaten, es kann also vom richtigen „Können“ noch nicht die Rede sein“, – antwortete ich mit einem sauren Schmunzeln, da ich nicht besonders dazu aufgelegt war, mich mit unbekannten Menschen in der U-Bahn zu unterhalten.

„Wenn Sie aber bereits solch schwierige Bücher lesen, heißt das, dass Sie schon ziemlich weit mit Ihrem Lernen gekommen sind. Ich glaube nämlich, liebes Fräulein, dass es kein Zufall ist, dass ich mich ausgerechnet neben Sie gesetzt habe. Ich habe in meiner Firma eine katastrophale Situation: wir müssen dringend eine vertragliche Vereinbarung übersetzen, um sie mit den Vertretern eines großen deutschen Unternehmens unterschreiben zu können, jedoch sind alle meine Übersetzer krankgeschrieben. In einer Woche erwarten wie die Mitarbeiter der Kapitalgesellschaft zu Besuch! Wenn die Vereinbarung nicht rechtzeitig übersetzt wird, verlieren wir diese phantastische Möglichkeit der Zusammenarbeit und außerdem eine beträchtliche Geldsumme, die wie verdienen könnten!!!“ – so sprach er mit solcher Verzweiflung, dass ich mich innerlich in seine Situation versetzt habe.

„Gut, – sagte ich, – geben Sie mir Ihre Telefonnummer. Ich rufe meine Deutschlehrerin an. Sie hat fast 30 Jahre lang im Fremdspracheninstitut gearbeitet, wahrscheinlich wird das für sie kein Problem sein! Welche Summe sind Sie bereit für die Übersetzung zu zahlen, damit ich ihr gleich Bescheid sagen kann?“

„Ach, Sie würden mich wirklich retten! Ich habe die Kopie der Vereinbarung dabei, nehmen Sie sie gleich mit“, – das Gesicht meines neuen Bekannten erleuchtete sich. Als er mir die Vereinbarung in die Hand drückte (etwa 15-20 Textseiten) und mir die Summe für die Arbeit nannte, sind mir die Augen fast aus dem Kopf gefallen, denn diese Summe war sogar höher, als der Preis für die Flugtickets!

Als ich abends aus dem Konservatorium nach Hause kam, rief ich meine Nina Viktorowna – eine wunderbare Deutschlehrerin und einen herzensguten Menschen – an. Als sie von meinem Angebot hörte, hat sie es zu meiner Verwunderung strikt abgelehnt: „Wissen Sie, Lenotschka, es geht hier um das fachmännische, spezielle Deutsch, in dem es von Fachausdrücken nur so wimmelt, und die kenne ich nicht. Deswegen werde ich das für kein Geld der Welt machen – nehmen Sie es mir nicht übel!“

Entmutigt rief ich sofort meinen neuen Bekannten an, der mich mit flehender Stimme bat: „Bitte, lassen Sie mich nicht hängen!!! Es ist nicht schlimm, wenn nicht alle Fachausdrücke perfekt übersetzt sein werden. Hauptsache, man kann den Sinn und die Idee verstehen. Bei der Besprechung werde ich es allen erklären. Ich bitte Sie!!!“

Was sollte ich bloß tun?! Für eine ganze Woche habe ich mich komplett in den Text dieser Vereinbarung und in mein neues Wörterbuch vertieft, das etwa 24 Tausend Wörter im deutsch-russischen und etwa 20 Tausend Wörter im russisch- deutschen Teil enthielt! Gar nicht so viel!!! Nach dieser Woche sah das Wörterbuch überhaupt nicht mehr neu, sondern sehr wohl abgenutzt aus und mein Hirn fing loderndes Feuer! Alle Lehrveranstaltungen, Treffen und Übungsstunden  habe ich abgesagt, ich schlief, aß und arbeitete nur noch an der Übersetzung, und das 14 Stunden täglich.

Am ersten Tag gelang es mir, nur die ersten 2 Seiten zu übersetzen. „Ich schaffe es nicht, ich schaffe es nie im Leben! Oh mein Gott!“ – drehte sich mein Kopfkarussell vor dem Schafengehen. „Macht nichts, – beruhigte ich mich selbst, – es ist erst der Anfang, es gibt viele unbekannte Wörter…“  Zu Beginn waren mir ja fast alle Wörter unbekannt! Am nächsten Tag betrug die Gesamtanzahl der Blätter schon 5 Stück! Und am dritten Tag konnte ich auf 10 fertig übersetzte Seiten blicken!

Nach 5 Tagen fieberhafter Arbeit war der Vertrag vollständig übersetzt worden! Der Kunde rief mich jeden Tag an, um sich nach meinen Erfolgen zu erkundigen, und versuchte mir mit viel Lob Mut einzufließen: „Nach dieser Heldentat werden Sie Deutsch perfekt beherrschen!“, was zum großen Teil der Wahrheit entsprach – mein Wortschatz verbesserte sich immens.

Am sechsten Tag haben wir uns getroffen. Ich überreichte ihm die Übersetzung, er gab mir die vereinbarte Geldsumme und auch noch das „Trinkgeld“ von sich persönlich! „Sie sind ein richtiger, willensstarker Mensch, auf den man sich verlassen kann! Menschen mit solchen Qualitäten und solcher Willenskraft werden sich den Weg im Leben garantiert bahnen!“

Nach diesem Marathon taten mir seine Worte sehr gut. Außerdem habe ich so viel Geld auf einmal noch nie verdient und fühlte mich deswegen wie eine richtig reiche Person.

Ein paar Tage später klingelte das Telefon und eine glückliche Stimme teilte mir mit, dass der Vertrag unterzeichnet wurde! Ich fragte natürlich gleich, wie meine unprofessionelle Übersetzung denn angekommen sei. Woraufhin mein Bekannter kurz lachte und erzählte: „Zuerst hat man sich ein wenig über „neue“ und „untypische“ Formulierungen professioneller Fachausdrücke amüsiert, aber der Sinn war dermaßen klar, dass der Assistent in nur einer Stunde alles korrigiert und gegen richtige Begriffe ersetzt hat, so dass wir den Vertrag unterschreiben konnten! Ich danke Ihnen nochmals ganz herzlich! Ich werde unser Abenteuer nie vergessen!!!“

Das „Abenteuer“ habe ich auch nicht vergessen, da ich dank diesem Ereignis das Geldproblem meiner Eltern lösen und mir selbst die Reise zum Meisterkurs des Professors Kämmerling finanzieren konnte, worauf ich sehr stolz gewesen bin!

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